„Compliance by Design“ in der Medizintechnik: Innovationsbremse oder Effizienz-Booster?
Immer mehr Entwickler in der Medizintechnik verbringen ihre Zeit mit Dokumentation, Validierung und Risikomanagement. In den vergangenen Jahren hat die Zahl regulatorischer Vorgaben und technischer Leitlinien weltweit zugenommen. Doch wer Anforderungen frühzeitig und systematisch in den Entwicklungsprozess integriert, kann daraus entscheidende Vorteile ziehen. „Compliance by Design“ etabliert sich zunehmend als Innovationsmotor und Effizienztreiber, statt bloße Pflicht und Notwendigkeit zu sein.
Regulatorische Herausforderungen
Regulatorische Vorgaben wie die EU-Verordnungen Medical Device Regulation (MDR) und die In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR) stellen Unternehmen weiterhin vor erhebliche Herausforderungen. Der hohe Aufwand für technische Dokumentation, klinische Bewertung, Post-Market-Surveillance und Qualitätsmanagementsysteme bindet Ressourcen und verzögert die Markteinführung. Besonders kleine und mittlere Unternehmen (KMU) geraten dabei unter Druck: Sie verfügen oft nicht über ausreichend regulatorische Expertise und tun sich schwer, qualifiziertes Personal zu finden. Laut MedTech Europe berichten rund ein Drittel der In-vitro-Diagnostik-Hersteller von Problemen bei der Besetzung von Regulatory-Affairs-Positionen, bei KMU liegt der Anteil noch höher. „Design for Compliance“ kann hier einen Perspektivwechsel ermöglichen.
Compliance als Schlüsselkompetenz
„Compliance by Design“ bedeutet, regulatorische Anforderungen von Anfang an in technische Entwicklung und Prozessplanung zu integrieren, anstatt sie nachgelagert zu prüfen. Risikoanalysen, Validierungsschritte und Sicherheitsstandards wie ISO 14971 oder IEC 62304 werden direkt in den Entwicklungsprozess eingebunden. Das erhöht die Produktqualität, reduziert spätere Korrekturen und verkürzt den Marktzugang.
Laut dem Life Sciences Regulatory Outlook 2025 von Deloitte verändert sich die Rolle der Compliance-Funktion grundlegend: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (AI) und Generativer AI ermöglicht es, regulatorische Prozesse effizienter, skalierbarer und strategischer zu gestalten. Generative KI könnte MedTech-Unternehmen dabei helfen, in den nächsten Jahren Ersparnisse zwischen sechs und zwölf Prozent zu erzielen. Unternehmen mit einem Umsatz zwischen 20 und 26 Milliarden US-Dollar könnten so jährlich bis zu 3,2 Milliarden US-Dollar einsparen.
Compliance by Design in der Praxis
Praxisbeispiele zeigen, wie sich „Compliance by Design“ bereits heute anwenden lässt. So nutzen etwa einige Medizintechnikhersteller die Product Lifecycle Management Software Siemens Polarion, um regulatorische Anforderungen während der Entwicklung automatisiert zu dokumentieren. Das erleichtert Audits, beschleunigt Freigaben und verkürzt die Time-to-Market deutlich.
Ein anderes Beispiel liefert das EU-Forschungsprojekt Thrombus+, das ein Medizinprodukt zur Thromboseprävention mit komplexen Hard- und Softwarekomponenten entwickelt. Hier werden rechtliche, regulatorische und sicherheitstechnische Anforderungen frühzeitig eingebunden – mit dem Ziel, nicht erst retrospektiv auf Compliance zu reagieren, sondern regulatorische Vorgaben als Teil der Innovationsstrategie aktiv zu nutzen.
Herausforderungen und Chancen für kleine und mittlere Unternehmen
Kleine und mittlere Unternehmen stehen besonders unter Druck, da sie regulatorische Anforderungen mit begrenzten personellen und finanziellen Mitteln umsetzen müssen. Ohne eigene Regulatory-Affairs-Teams führt das oft zu Verzögerungen, Mehraufwand oder Projektabbrüchen.
Mit AI-gestützten Tools lässt sich Compliance by Design auch für kleinere Unternehmen effizient umsetzen, um regulatorische Komplexität besser zu managen. In Kombination mit externen Fachnetzwerken, Schulungsangeboten und branchenspezifischen Beratungsstrukturen lassen sich Engpässe beim nötigen Wissen überbrücken. So wird optimierte Compliance auch für Unternehmen mit limitierten Ressourcen möglich.
Compliance strategisch nutzen
„Compliance by Design“ ist keine Innovationsbremse, sondern ein strategischer Hebel: Richtig umgesetzt, beschleunigt er die Markteinführung, senkt langfristig Kosten und erhöht die Produktsicherheit. Unternehmen, die regulatorische Anforderungen frühzeitig integrieren und digital abbilden, sichern sich klare Wettbewerbsvorteile und können Innovationszyklen auch unter strengeren Vorgaben erfolgreich gestalten. Die Zukunft der Medizintechnik gehört jenen, die Compliance nicht nur einhalten, sondern aktiv mitdenken.