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Entwickeln für die Ewigkeit: Warum Zuverlässigkeit und Langzeitverfügbarkeit in der Medizinelektronik entscheidend sind

Medizinelektronik muss nicht nur funktionieren, sondern zuverlässig, verfügbar und über Jahre hinweg rückverfolgbar sein. Neue Vorgaben wie die EU-Verordnung 2024/1860 oder die Verpflichtung zur Unique Device Identification (UDI) erhöhen den Druck auf Hersteller. Zugleich steigen die Anforderungen an Auswahl, Validierung und Dokumentation von Bauteilen. Wer Zuverlässigkeit von Anfang an mitdenkt, schafft die Grundlage für Compliance, Marktzugang und wirtschaftliche Resilienz.

Medizintechnik im Dauerbetrieb

Medizintechnik wie Dialysegeräte, Implantate oder bildgebende Systeme läuft oft im Dauerbetrieb unter thermischer, mechanischer und elektrischer Belastung. Ein Komponentenausfall kann nicht nur den Betrieb unterbrechen, sondern auch die Patienten gefährden. Hinzu kommen hohe Rückrufkosten, Reputationsverluste und im schlimmsten Fall der Verlust der Marktzulassung. In diesem Kontext wird Zuverlässigkeit zur Grundvoraussetzung jeder neuen Entwicklung und ist durch Verordnungen und Normen streng geregelt.

Steigende regulatorische Anforderungen

Mit der Verordnung (EU) 2024/1860 wurde die Medical Device Regulation (MDR) um Artikel 10a ergänzt. Hersteller von Medizinprodukten sind nun verpflichtet, drohende Unterbrechungen der Versorgung frühzeitig zu melden – insbesondere, wenn Patientenversorgung oder öffentliche Gesundheit betroffen sein könnten. Parallel gewinnt die Unique Device Identification (UDI) zunehmend an Bedeutung. Seit Mai 2025 sind auch Klasse-I-Produkte UDI-pflichtig, die EUDAMED-Registrierung könnte ab 2026 obligatorisch werden.

Weitere Anforderungen ergeben sich aus ISO 13485 mit Anforderungen an Qualitätsmanagementsysteme und ISO 14971 speziell in Bezug auf Risikomanagement. Sie fordern Design Controls, technische Dokumentation und die Berücksichtigung von Lebenszyklusrisiken, inklusive Rückverfolgbarkeit und Validierung jeder Änderung. Für Hersteller bedeutet das: Technische und regulatorische Anforderungen müssen bereits im Entwicklungsprozess zusammengedacht werden.

Zuverlässigkeit beginnt beim Design

Wer auf belastbare Komponenten, saubere Derating-Konzepte und thermische Reserven setzt, verhindert Ausfälle frühzeitig. Verfahren wie Highly Accelerated Life Test (HALT) oder Highly Accelerated Stress Screening (HASS) decken Schwachstellen schon am Prototypen auf, bevor sie im Feld zum Problem werden. Besonders kritisch ist die Validierung unter realen Umgebungsbedingungen wie Temperaturzyklen, Feuchtigkeit oder Vibrationen. Ohne frühzeitige Langzeitsimulationen bleibt die Aussagekraft zur Lebensdauer der Produkte eingeschränkt. Doch selbst das robusteste Design schützt nicht vor dem kurzen Produktlebenszyklus vieler Bauteile.

Obsoleszenz aktiv managen

Die Halbwertszeit von Elektronikbauteilen schrumpft zunehmend. Viele integrierte Schaltungen (ICs), Sensoren oder Displays sind nur wenige Jahre lieferbar. End-of-Life-Notifikationen zwingen Hersteller zu rascher Reaktion. Wer hier nicht vorgesorgt hat, riskiert langwierige Re-Designs oder sogar die Verluste von Zulassungen.

Strategien wie Second-Source-Designs, frühzeitige Lebenszyklusanalysen oder langfristige Rahmenverträge mit Lieferanten helfen, Versorgungslücken zu vermeiden. Tools wie Product-Change-Notification-Datenbanken, Obsolescence Forecasting und Lifecycle Risk Management werden zur Pflichtaufgabe. Lifecycle Management wird heute als kontinuierlicher Prozess verstanden, der auch geopolitische und technologische Trends berücksichtigen muss. Ebenso ist eine lückenlose Rückverfolgbarkeit entscheidend, um auf Bauteiländerungen oder -ausfälle gezielt reagieren zu können.

Traceability und UDI: Pflicht mit Potenzial

UDI-Systeme, Seriennummern, Batch Record Documentation, Lieferantennachweise – die Dokumentationspflichten sind umfassend. Jede Änderung an einem Produkt, sei sie technischer oder organisatorischer Natur, muss nachvollziehbar dokumentiert und gegebenenfalls regulatorisch neu bewertet werden.

Mit der Leitlinie MDCG 2025-7 konkretisiert die Medical Device Coordination Group die Umsetzungsfristen und Anwendungsfälle für die Master Unique Device Identifier - Device Identifier (UDI-DI), insbesondere bei individualisierten Sehhilfen wie Kontaktlinsen und Brillenprodukten. Die Master UDI-DI soll die Rückverfolgbarkeit vereinfachen. Wer hier digital arbeitet, mit versionierter technischer Dokumentation und automatisierter Änderungsverfolgung, spart im Auditfall wertvolle Zeit. Rückverfolgbarkeit allein reicht jedoch nicht aus, denn auch die Verfügbarkeit der Komponenten muss gesichert sein.

Lieferketten widerstandsfähig gestalten

Die Pandemie und geopolitische Spannungen haben verdeutlicht, wie riskant globale Abhängigkeiten sein können. Strategien wie China+1, Nearshoring und Multisourcing gewinnen daher an Bedeutung. Hersteller sind gut beraten, frühzeitig mit Electronic Manufacturing Services (ESM) Partnern zusammenzuarbeiten, die auf Medizintechnik spezialisiert sind und regulatorische Anforderungen verinnerlicht haben. Digitale Lieferantendokumentation, belastbare Qualitätsvereinbarungen, Second-Source-Strategien und Transparenz auf Materialebene – etwa durch Bills of Materials-Management-Tools – sind entscheidend, um die Versorgungssicherheit nachhaltig zu stärken.

Zukunftsausblick: Wie KI und Digital Twins helfen können

Der technologische Fortschritt spielt ebenfalls eine zentrale Rolle für mehr Zuverlässigkeit. Moderne Werkzeuge wie Digital Twins erlauben eine durchgängige Simulation von Produktverhalten, Wartungsintervallen und Alterung. Sie können mit realen Nutzungsdaten verknüpft werden und ermöglichen vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance). Laut McKinsey können Digital-Twin-Plattformen dazu beitragen, Entwicklungszeiten signifikant zu verkürzen, Produktvalidierungen zu beschleunigen und regulatorische Anforderungen frühzeitig zu simulieren.

Auch in der Testautomatisierung helfen KI-Modelle, etwa um Alterungsprognosen zu verbessern, Testumfänge dynamisch anzupassen oder Anomalien in der Fertigung frühzeitig zu erkennen. Voraussetzung ist jedoch ein solides Datenfundament aus Entwicklung, Qualitätssicherung und Nutzung.

Zuverlässigkeit als strategische Chance

Zuverlässigkeit beruht in der Medizintechnik nicht auf Freiwilligkeit, sondern ist eine regulatorische Pflicht. Ohne strategisch geplante Langzeitverfügbarkeit sind Zulassung, Marktzugang und Patientensicherheit gefährdet. Wer seine Entwicklung, Lieferketten und Dokumentation konsequent auf Lebensdauer ausrichtet, wird nicht nur auditfest, sondern schafft sich auch handfeste Wettbewerbsvorteile.

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