China+1: Wie sich Medizintechnik-Zulieferketten neu ausrichten
Geopolitische Spannungen, regulatorische Hürden und neue Handelsbarrieren setzen Medizintechnik-Unternehmen zunehmend unter Druck. Seit Juni 2025 schränkt eine neue EU-Verordnung (EU) 2025/1197 den Zugang chinesischer Anbieter zu öffentlichen Aufträgen im Bereich Medizinprodukte stark ein: Bei Ausschreibungen ab fünf Millionen Euro dürfen chinesische Unternehmen nicht mehr teilnehmen. Für nicht-chinesische Anbieter gilt, dass der Anteil chinesischer Komponenten maximal 50 Prozent des Auftragswertes betragen darf. Zugleich drohen vonseiten der USA Importzölle auf Medizintechnikprodukte aus China oder Mexiko.
Viele US- und europäische Medizintechnik-Hersteller ziehen sich daher ganz oder teilweise aus China zurück. Die sogenannte „China+1-Strategie“ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Statt einer alleinigen Abhängigkeit von China setzen Unternehmen auf ergänzende Produktionsstandorte wie Vietnam, Indien oder Mexiko. Der strategische Schwenk bringt jedoch neue Herausforderungen für Zulieferer, Qualitätssicherung und Elektronikdesign mit sich.
Vietnam: Nähe zu China, aber weniger Risiko
Vietnam entwickelt sich zu einem wichtigen Produktions- und Wachstumsstandort für Elektronik- und Medizintechnik. Internationale Unternehmen wie Stryker und B. Braun investieren in lokale Fertigung, während der Medizintechnikmarkt in Vietnam im Jahr 2025 auf rund 1,77 Milliarden US-Dollar anwachsen soll. Vietnam punktet mit etablierten Liefernetzwerken, wettbewerbsfähigen Produktionskosten und seiner geografischen Nähe zu China. Als zunehmend wichtiger Partner westlicher Industrienationen profitiert das Land aktuell vom geopolitischen Druck auf China.
Indien: Wachstum mit staatlicher Unterstützung
Mit ambitionierten Wachstumsplänen und staatlichen Förderinitiativen wie dem Production Linked Incentive (PLI) Programm für Medizingeräte und neu entstehenden Medical Device Parks wie dem Uttar Pradesh Medical Device Park in der YEIDA-Region entwickelt sich Indien schnell zum vielversprechenden Standort für Medizintechnik. Internationale Unternehmen wie Siemens Healthineers und Wipro GE Healthcare zeigten bereits Interesse am Förderprogramm der indischen Regierung.
Laut der Association of Indian Medical Device Industry (AIMED) lag das Marktvolumen im Jahr 2023/24 bei rund 12 Milliarden US-Dollar. Bis 2030 soll der indische Markt auf 50 Milliarden US-Dollar anwachsen. Damit zählt Indien heute bereits zu den Top 20 Ländern weltweit, mit einem globalen Marktanteil von 1,65 Prozent, der sich in den nächsten 25 Jahren auf 10 bis 12 Prozent erhöhen könnte.
Qualität sichern, Compliance garantieren: Was der Standortwechsel wirklich bedeutet
Eine strategische Diversifikation nach dem China+1-Prinzip geht weit über eine reine geografische Verlagerung hinaus. Medizintechnik-Unternehmen müssen sicherstellen, dass sie an neuen Standorten sämtliche regulatorischen Anforderungen erfüllen. Jede Änderung des Produktionsstandortes kann umfangreiche Neuzulassungsverfahren in Märkten wie den USA, der EU oder China erforderlich machen. Darüber hinaus müssen elektronische Designs, insbesondere von Platinen (PCBs), konsequent den strengen medizintechnischen Standards entsprechen. Dies erfordert spezialisierte Zulieferer mit Erfahrung in medizinischen Anwendungen und nachweisbarer Compliance.
Zusätzlich gewinnen digitale Tools zur regulatorischen Verwaltung immer stärker an Bedeutung. KI-basierte Lösungen etwa helfen, komplexe Compliance-Anforderungen effizient zu managen und Risiken zu reduzieren.
Lieferketten: Diversifikation als strategische Notwendigkeit
Südostasien – insbesondere Vietnam, Malaysia und Indonesien – entwickelt sich zu einem bedeutenden Produktionsstandort. Die zunehmende Interkonnektivität der Lieferketten, insbesondere durch Investitionen chinesischer Unternehmen in der Region, verstärkt den Trend zur Diversifikation globaler Produktionsnetzwerke. Diese Diversifikation ist inzwischen keine Option mehr, sondern eine strategische Notwendigkeit zur Absicherung der Produktions- und Lieferfähigkeit. Empfohlen wird der Aufbau regionaler Produktionscluster, um Abhängigkeiten zu minimieren und die Flexibilität globaler Wertschöpfungsketten zu erhöhen. Keine Region kann heute isoliert bestehen. Die zentrale Herausforderung liegt also darin, die Chancen globaler Vernetzung mit den Risiken von Abhängigkeiten in Einklang zu bringen.
Strategische Chancen in einer veränderten Welt
Für Unternehmen, die diesen Wandel aktiv gestalten, ergeben sich handfeste strategische Vorteile: von robusterer Lieferfähigkeit über geringere geopolitische Risiken bis hin zu einem besseren Marktzugang. Entscheidend ist jedoch nicht nur der Standortwechsel, sondern auch die Wahl geeigneter Partner mit regulatorischem Know-how, technischer Fertigungskompetenz und belastbaren Logistikstrukturen. Die China+1-Strategie entwickelt sich damit zur entscheidenden Stellschraube für Medizintechnikunternehmen, um in einem zunehmend volatilen globalen Handelsumfeld wettbewerbsfähig zu bleiben.