Kameras und Radarsensoren erobern nun auch den Fahrzeuginnenraum. Dort sollen sie in Kombination mit intelligenten Algorithmen für ein Plus an Sicherheit und Komfort sorgen.
Wer bei Tempo 100 für nur zwei Sekunden kurz einnickt oder seine Mails checkt, legt über 50 Meter mit seinem Fahrzeug zurück – und das im Blindflug. Ein unterschätztes Risiko wie Studien zeigen. Danach geht rund jeder zehnte Unfall auf Ablenkung oder Müdigkeit zurück. Deswegen schreibt ab 2024 die Europäische Kommission GSR (General Safety Regulation) technische Einrichtungen zur Fahrerüberwachung bei Neuzulassungen vor. Bis 2038 könnten so mehr als 25.000 Leben gerettet und mindestens 140.000 schwere Verletzungen vermieden werden.
Zusätzlich belohnt die Verbraucherorganisation Euro NCAP – eine Gesellschaft europäischer Verkehrsministerien, Automobilclubs und Versicherungsverbände – den Einbau von Innenraumkamerasystemen bereits ab 2023 mit Punkten. Positiv in die Bewertung fließt dabei insbesondere das Erkennen von Kindern (Child Presence Detection, CPD) ein. Auch die amerikanische Bundesbehörde für Straßen- und Fahrzeugsicherheit NHTSA berücksichtigt diese Technologie bei der Vergabe ihrer begehrten Sterne.
Die Automobilhersteller- und Zulieferer reagieren nicht erst heute auf diese Anforderungen. Schließlich setzen zukünftige Mobilitätsmodelle wie automatisiertes oder autonomes Fahren die permanente Beobachtung zumindest des Fahrzeugführers voraus, da die situationsbedingte Rückgabe des „Lenkrads“ an den Fahrer nur verantwortbar ist, wenn dieser vom System erkennbar dazu in der Lage ist.
Continental integriert zu diesem Zweck eine auf 10 mm minimierte Optik und Radarsensorik direkt ins Display. Die Kombination beider Technologien erschließt alle Bereiche des Innenraums und damit eine Reihe von Anwendungsfällen. So erkennt das sogenannte Cabin-Sensing etwa zuverlässig Erwachsene, Kinder oder Tiere. Dabei „verraten“ sich lebende Objekte unter anderem durch die Atmung.
In Zukunft soll die Technologie weitere gesundheitliche Parameter wie Puls, Atemrate oder Körpertemperatur erfassen, um etwa bei einem gesundheitlichen Notfall das Fahrzeug durch ein sogenanntes Minimum-Risk-Manöver sicher zum Stehen zu bringen.
Bei Bosch erkennt eine im Lenkrad eingebaute Kamera, wann die Augenlider des Fahrers schwer zu werden drohen, er abgelenkt ist oder seinen Kopf zum Beifahrer oder in Richtung der Rücksitze dreht. In solchen Fällen schlägt die KI Alarm, empfiehlt Pausen oder reduziert sogar die Geschwindigkeit des Fahrzeugs.
Trainiert werden Systeme zur Insassenbeobachtung mit Aufnahmen von realen Fahrsituationen. Dafür hat etwa das CARISSMA Institute of Safety in Future Mobility (C-ISAFE) der technischen Hochschule Ingolstadt eine Datenbank (100 Fahrstunden, 130 TB) mit Daten aus dem Realverkehr von Berufspendlern und Fernfahrern erstellt. Sie enthält Videos von den Gesichtern der Fahrer (RGB- und IR-Kameras) und der Straßenumgebung (Dashboard Camera), physiologische Daten (von Smartwatch und EKG) und subjektive Bewertungen von Stress und Schläfrigkeit während der Fahrten. Mit diesen Daten werden Algorithmen entwickelt, die etwa die Fitness der Fahrer bewerten.
Nicht nur das Gesicht, sondern ebenso die aktuellen Posen der Fahrzeuginsassen detektiert dagegen die KI vom Fraunhofer IOSB. Dazu abstrahiert das System die Aufnahmen der Personen zu einem digitalen Skelett, das die Körperposen nachbildet. Die Skelettbewegung in Kombination mit einer ergänzenden Objekterkennung gibt dann darüber Aufschluss ob jemand etwa schläft oder abgelenkt ist und wie lange es dauert, bis die volle Aufmerksamkeit wieder auf den Verkehr gerichtet werden kann.
Die Hardware besteht aus klassischen Videokameras, unterstützt durch Infrarot sowie 3D-Kameras – sogenannte TOF-Kameras (Time of Flight), die mit dem Laufzeitverfahren die Entfernung der Objekte zum Sensor messen.
Um Datenschutz- und Sicherheitsaspekten gerecht zu werden, verlassen die Daten zu keinem Zeitpunkt das Fahrzeug. Auch erfolgt nach der Auswertung in Echtzeit keine Speicherung. Und da die Fraunhofer-Forscher auf personalisierte Modelle verzichten, entfällt das Sammeln von personenbezogenen Daten. Die Technologie respektiert also von vornherein die Privatsphäre und entspricht damit den strengen Regularien in der EU.